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Freiheitliche Gesellschaft in Gefahr?

Ich weiß ja gar nicht mehr, wie Zeitungen eigentlich vor dem 9/11 ihre Spalten füllten, als man noch nicht von der drohenden Übernahme des Westens durch den Islamismus sprechen konnte. Ach ja, jetzt erinnere ich mich wieder, damals stand genau der gleiche Text da, nur mit Asylanten statt Muslimen.

Das daueraktuelle Jammern um die “muslimische Bedrohung” der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, der Aufklärung, der Säkularisierung, der Mensaspeisepläne, der Schule und was weiss ich hat einen hochironischen Aspekt: Die Jammernden. Diejenigen, die laut nach einem Kopftuchverbot in Schulen schreien, sind oft die gleichen, die ebenso laut fordern, “ihre” Kinder zu Hause in aller Stille indoktrinieren zu dürfen. Diejenigen, aus deren Ecken diese Schreie kommen, sind fast ausnahmslos Konservative, Rechtsliberale und Deutschnationale. Der große Witz dabei ist, dass diese Menschen sich nie einen Scheiß um die Aufklärung, positive Freiheiten oder die Säkularisierung gekümmert haben! Die opponierten doch noch gegen die Schulpflicht! Und jetzt, jetzt machen sie einen auf Wendehals, hören auf, Brandts politische Leiche zu zerpflücken, und scharen sich ums Banner der Aufklärung. Wat soll dat denn?

Die naîve Idee wäre ja, dass sie einfach eine größere Bedrohung für ihren Lebensentwurf ausgemacht haben, als wir menschlich-progressiven für sie sind. Das wäre nicht nur äußerst beleidigend, denn wir sind Millionen und direkt im Land statt ein paar Dutzend Selbstmordattentäter im nahen Osten, sondern es wäre auch historisch äußerst verwunderlich. Die Rechte war immer darauf bedacht, Antidemokraten möglichst noch den Steigbügel zu halten, um, sobald die Demokratie aus dem Sattel gehoben wurde und ihr Feind müde überm Sattelknauf hängt, letzterem den Rest zu gegen und wieder eine Oligarchie einzurichten. Wir erinnern uns wohl alle gut an ‘33. Genauso 1918-23. Genauso 1848. (Viel mehr demokratische Versuche kann das revolutionsfaule Deutschland ja nicht aufweisen.) Sollte es wirklich ein kollektives Lernen geben? Sollten die Enkel derer, die glaubten, Hitler für ihre Zwecke einspannen zu können, gelernt haben, an der Stärke ihres Zaumzeuges zu zweifeln? Wenn dem so wäre, könnte mangels fünfter Kolonne kein Feind unsere Demokratie niederringen, und das Problem wäre keines.

Der realistische Ansatz ist, dass diese Menschen noch immer nichts von Egalitarismus, Aufklärung, Säkularismus oder Solidarität halten. Sie wollen immer noch in die “gute, alte Zeit” zurück, als das Pack noch nichts zu sagen hatte, oder endlich in die schöne neue Welt, in der das Pack nichts zu sagen haben wird. Nur haben sie mit ihrem Alarmismus eine Möglichkeit gefunden, ihrer Sache Auftrieb zu verschaffen und der Sache der Aufklärung zu schaden. Ihre Intoleranz färbt, aus genügendem Abstand gesehen, das Toleranzideal heuchelrot; das Beschwören des Kulturkampfes ist nichts als eine Deckung für den Abbau staatsbürgerlicher Freiheiten; der Schrei nach der Leitkultur ist nichts als der Versuch, die Macht über die Erziehung zurückzuerlangen.

Kurzum: Wer heutzutage dazu aufruft, die Demokratie, die Freiheit und die Aufklärung zu verteidigen, den sollte man gleich im Verdacht haben. Er ist wohl gegen sie. Diese Werte können auch nicht verteidigt werden, denn sie leben in und aus dem Vormarsch. Die Aufklärung muss voran marschieren, ihre Lieder schmetternd und Festungen nehmend. Hält man sie fest, indem man sich um sie schart, erstickt man sie im Kompromissmief. Deshalb: Mehr Demokratie wagen, dann kommt die “Verteidigung” gegen die “Horden” von ganz allein. Alles andere sind saure Drops.

Steve
Dieser Eintrag wurde am Sonntag, den 24. September 2006 von Steve geschrieben und in die Kategorie Gesellschaft eingeordnet. Du kannst alle Kommentare zu diesem Artikel mit dem RSS 2.0 Feed beobachten. Du kannst eine Antwort hinterlassen, oder durch einen Trackback auf diesen Artikel verlinken.
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Kommentar von Name am 26. September um 22:57 Uhr

Tauscht man in diesen Tagen in den deutschen Medien und den Reden der deutschen Politiker die Wörter Jude mit Moslem aus, dann findet man sich in Nazi-Deutschland der 30er Jahre wieder.

Wird hier wieder ein Pogrom vorbereitet bei dem diesmal Moscheen statt Synagogen brennen?

Kommentar von Steve am 27. September um 01:42 Uhr

Hi,

Wird hier wieder ein Pogrom vorbereitet bei dem diesmal Moscheen statt Synagogen brennen?

Oder sind die Propagandavariationen über einem simpel gruppenfeindlichen Thema nur einfach so gering, dass die Parallelen unvermeidlich sind?

Schönen Gruß, Steve

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