George Orwell und die Geheimdienste
Wahrscheinlich ist er der weltberühmteste Warner vor staatlicher Überwachung. Den britischen Behörden war er jedenfalls so suspekt, dass sie ihn mehr als 20 Jahre lang überwachen ließen.
Den “Großen Bruder” und seine lückenlose Überwachung bis in die intimsten Lebensbereiche hinein hat Eric Arthur Blair so eindrucksvoll beschrieben, dass sein Roman “1984″ heute zur Standard-Lektüre auch an deutschen Schulen zählt. Veröffentlicht hat der britische Journalist und Schriftsteller ihn unter dem Pseudonym George Orwell. Seine Alliteration “Big Brother” ist längst zum Inbegriff der ununterbrochenen Observation geworden.
Nach dem britischen Informationsfreiheitsgesetz “Freedom of Information Act” von 2005 haben die Behörden jetzt auch ihre Archive über George Orwell geöffnet. Dabei kam heraus, dass der Autor von den Geheimdiensten seines Heimatlandes jahrelang überwacht worden war.
Ein Sergeant Ewing von Scotland Yard beschuldigte den Schriftsteller 1942 in einem Dokument, er hege “fortgeschritten kommunistische Ansichten”. Man habe ihn auch bei kommunistischen Zusammenkünften gesehen.
Was für den wackeren Polizisten aber noch viel schwerer wog: “Er kleidet sich wie ein Bohemien, im Büro und in seiner Freizeit!”
Diese engstirnige Verdachtsbegründung hielt selbst gegenüber dem Geheimdienst MI5 nicht stand. Doch ist sie genau von dem Kaliber wie jene Anschuldigungen gegen den Berliner Stadtsoziologen Dr. Andrej H., wonach der Wissenschaftler der Mitgliedschaft in einer angeblichen “Militanten Gruppe” (MG) verdächtig sein soll, weil er unauffällig Bibliotheken besuchen könne und über die notwendigen intellektuellen Kapazitäten verfüge, die zum Verfassen anspruchsvoller Texte wie der Flugblätter jener “MG” erforderlich seien.
Doch im Gegensatz zur Bundesanwaltschaft heute konnte MI5 damals lesen: Aus Orwells jüngsten Veröffentlichungen gehe hervor, “dass er es nicht mit der Kommunistischen Partei hält und sie nicht mit ihm”, schlussfolgerte der MI5-Offizier W. Ogilvie zu Recht.
Orwell verstand sich nämlich immer als Sozialist. Den Stalinismus indes brandmarkte er in seiner Dystopie “Animal Farm” (Deutsch: “Die Farm der Tiere”) auf das Schärfste. Eine Revolution habe keinerlei Wert, wenn die Herrschenden nur durch andere Schweine ersetzt würden.
Der “Große Bruder” war seinerzeit in Großbritannien noch verhältnismäßig harmlos. So notierte Ogilvie nach einem Telefonat mit Scotland Yard, “der gute Sergeant” sei mit Orwells “eher individueller Haltung” wohl ziemlich überfordert gewesen.
Erschreckend ist aber, wie leicht jemand unbegründet in Verdacht und dann auch bald in die Fänge staatlicher Überwachung geraten kann. Bei den modernen technischen Methoden der Überwachung kann das übelste Folgen haben.
Und schließlich hat die britische Spionage-Abwehr 1949, ein Jahr vor Orwells Tod, auch eine Agentin auf Orwell angesetzt. Ihrem Charme erlag er letztlich und fertigte zwei Listen an: Auf der einen verzeichnete er Schriftsteller, die er für überzeugte Kommunisten hielt. Die andere nannte Namen von Autoren, die er für vertrauenswürdig hielt.
Welche der beiden Listen letztlich den darauf benannten Leuten mehr geschadet hat, bleibt offen. Ebenso offen bleibt, ob Orwells eindringliche Warnung vor dem “Großen Bruder” und seiner Allgegenwart mit ihrem Titel “1984″ die richtige Jahreszahl angegeben hat oder ob noch eine Chance besteht, dem dort geschilderten Horror zu entgehen.
Kommentar von Hans am 5. September um 09:37 Uhr
Der in 1984 geschilderte Horror ist und war bereits da. Man muss den Roman nur einmal gelesen haben um die vielen Parallelen zur Stasi der DDR und zum heutigen Desinformations- und Überwachungsstaat springen einem förmlich ins Auge.
Das Wahrheitsministerium verbreitet Lügen, die Geschichte wird ständig umgeschrieben und zwar so, dass es den Herrschenden passt. Unpassende Menschen und Informationen verschwinden einfach. Das gibt es auch heute und hier.
Getreu dem Motto ‚Krieg ist Frieden’ verkauft man uns heute lupenreine Angriffskriege als notwendige Sicherungsmaßnahmen für den Frieden und gegen den weltweiten Terrorismus.
George Orwell muss ein Hellseher gewesen sein oder aber war selbst in diese Strategie eingeweiht um sie kurz nach dem 2. Weltkrieg so treffend zu beschreiben.
Kommentar von guy am 5. September um 10:22 Uhr
leider alles wahr…..
oder anders
wo unrecht zu recht wird,
wird widerstand zur pflicht
Kommentar von guadalupe am 5. September um 10:58 Uhr
@Hans
Du schreibst:
“George Orwell muss ein Hellseher gewesen sein oder aber war selbst in diese Strategie eingeweiht um sie kurz nach dem 2. Weltkrieg so treffend zu beschreiben.”
Letzteres ist zutreffend. Und das ist aus deren Sicht wichtiger Teil der Strategie.
Kommentar von Firemage am 5. September um 13:37 Uhr
Eine wichtige Qualität fehlt noch:
Noch muss keiner Angst haben, dass jemand aus der engsten Umgebung einen beim Staat anschwärzt. und Regierungskritiker werden auch noch nicht konsequent verfolgt.
Die Manipulationen sind auch noch nicht ganz so extrem wie in “1984″, aber die Parallelen sind dennoch unverkennbar.
Wir bewegen uns wirklich langsam aber sicher in Richtung Überwachungsstaat, und das macht mir Angst.
Kommentar von Gustav mit der Hupe am 5. September um 17:06 Uhr
He! Halt mal…!
Vielleicht war er ja (noch ein) Zeitreisender, oder aus einer Parallelwelt … und zu uns geflüchtet, um uns vorzuwarnen?!
Egal wie, so lange es nicht in jeder größeren Stadt eine Orwell-Straße oder gar einen Orwell-Platz gibt - die uns immer daran erinnern würdenj, wach und aufmerksam den ‘großen Brüdern (und Schwestern!)’ auf die Finger zu schauen, so lange WISSEN wir, daß die Herrschenden ihren Wunsch nach HERRSCHAFT gegen uns andere auch weiterhin hegen und pflegen.
tuuuuut
Kommentar von Franz-Josef Hanke am 5. September um 18:49 Uhr
Die Inszenierung nimmt merkwürdige Formen an. Das “Wahrheitsministerium” bietet uns gerade heute ein “aufregendes” Schauspiel. Wie sagte doch schon der österreichische Egomane Andre Heller: “Die Lüge ist wahrer als die Wahrheit, weil die Wahrheit so velogen ist.”
fjh
Kommentar von drisch am 5. September um 20:05 Uhr
ich mag “mein katalonien” von Orwell lieber, schade dass die Realität der 2.Republik in Katalonien nie zu einer sich selbstverwirklichenden Prophezeiung wurde, ha, aber das kommt wohl erst wenn die Realinszenierung von 1984 abgebrochen wird…
Kommentar von Westaflex Markenwelt Lufttechnik Schallschutz Filtration » Blog Archiv » Big Brother selbst erlebt am 7. September um 14:51 Uhr
[…] wurde jahrelang von britischen Behörden ausspioniert. Das Zeigen im Rahmen des britischen „Freedom of Information Act“ von 2005 der Öffentlichkeit jetzt zugänglich Dokumente. Die freigegebene Akte […]
Kommentar von bio am 7. September um 15:16 Uhr
Ja, George Orwell hat vieles vorhergesehen. Am interessantesten, weil “in der freien Wildbahn” die letzten Jahre sehr gut zu beobachten, finde ich das in 1984 thematisierte “Neusprech”. Dabei muss man nur mal in Wörterbüchern nach einem Begriff wie z.B. “Gefährder” suchen und wird verwundert feststellen, dass es dieses Wort gar nicht gibt bzw. bisher nicht gab.
Der Begriff “Gefährder” ist eine Wortneuschöpfung. Das Wort gibt es erst seit wenigen Monaten und ist bislang in keinem Wörterbuch verzeichnet. George Orwell hat diese Entwicklung bei totalitären Systemen thematisiert. In 1984 bezeichnet “Neusprech” (newspeak) die vom herrschenden Regime vorgeschriebene, künstlich veränderte Sprache. Dabei werden unter anderem Begriffe der normalen Sprache umgedeutet und neue Begriffe in die Sprache eingeführt, die es vorher nicht gab. Vorhandene Wortstämme werden zu neuen Begriffen umgeformt, die der herrschenden Ideologie dienlich sind.
Bzgl. “Neusprech” und “konstruierte Sprachen” kann man sich auf die schnelle z.B. hier informieren:
http://de.wikipedia.org/wiki/Neusprech und
http://de.wikipedia.org/wiki/Konstruierte_Sprache
Kommentar von Vlaic am 10. September um 21:03 Uhr
1984 ist zweifellos eines der hervorragendsten politischen Werke des 20. Jh. Mit welcher Genauigkeit und auf welche negative Art er diese Welt beschreibt ist wunderbar. Wo alles vom Staat diktiert wird, kann es selbst Liebe nicht mehr geben, und wer an sie glaubt, ist ein Narr.
Dieses Buch hat nur wenige optimistische Szene, welche aber ins vollkommene negative enden. Parallelen zu allen allzu staatlichen Staaten erkennt man sofort. Auch deshalb ist es so wichtig.
Bewegend ist auch das Werk: “Mein Katalonien”. Man sollte es unbedingt auch gelesen haben.